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Kontrollverlust

Jan Kleinert, Chefredakteur

Mit den Erkenntnissen aus der Genforschung stellen Pharmafirmen wichtige Impfstoffe her. Und in wenigen Jahrzehnten werden dank der Wissenschaftler wichtige Krankheiten heilbar oder wenigstens zu lindern sein. Die andere Seite der Medaille prägen Dolly oder das menschliche Ohr, das vor Jahren auf dem Rücken einer Labormaus wuchs - schon allein ästhetisch ein Super-GAU. Man muss nicht mal religiös sein, um dabei ein Schaudern zu empfinden. Kaum vorstellbar, was die nächsten Jahrzehnte bringen.

Als wirksames Regulativ kommt der einzelne Wissenschaftler selbst infrage. Von ihm kann die Gesellschaft erwarten, dass er aufhört ein Feld zu erschließen, wenn es sich als dicht vermint erweist. Informatiker, E- oder Automatisierungstechniker und so weiter können sich da glücklich schätzen. Bis auf ein paar harte Jungs (und Mädels?), die an den Lenksystemen moderner Waffen rumprogrammieren, basteln alle an moralisch indifferenten Projekten. Wirklich?

Die Radio Frequency Indentification ist eine vergleichbar janusköpfige Technologie: Die kleinen billigen Chips, die bald jeder Alltagsgegenstand tragen soll, sind einerseits ein Segen. Denn Transport, Lagerung und Reklamationen werden mit RFID beherrschbarer und effizienter als heute. Das spart Kosten und Zeit: Den Fluggesellschaften hilft das System dabei, Gepäck wiederzufinden, Bibliotheken finden verstellte Bücher und die Waschmaschine warnt, wenn man versucht ein 30-Grad-Hemd bei 60 Grad zu waschen.

Die Schattenseite: Jeder Bürger zieht eine Datenspur hinter sich her. Kurz nach dem Betreten eines Ladens kann der Verkäufer wissen, ob er teure oder billige Unterwäsche trägt oder ob in seiner Einkaufstasche Fußpilzsalbe liegt. Ob beabsichtigt oder nicht: Dieses Wissen wird das Verhalten des Verkäufers gegenüber seinem Kunden beeinflussen. Schlimmer ist, dass jeder Versicherungsvertreter mit Notebook in Sekunden einen Haushalt schätzen kann: "Tja, Sie sind ja krass unterversichert!" Die Erkenntnis ist wichtig, schließlich kennt auch der am Haus vorbeibummelnde potenzielle Einbrecher das Inventar der Wohnung auf Heller und Cent.

Den Beweis, dass Alkohol blöd macht, treten Stammbesucher des Baja Beach Club in Barcelona an. Die lassen sich nämlich RFID-Chips implantieren (immer dienstags). Das Geld für ihre Drinks bucht der Barbesitzer ab sofort online vom Konto ab. Keine Wahl dagegen haben die Schüler und Lehrer der Enterprise Charter School in Buffalo, wenn ihr pünktliches Erscheinen seit einem Jahr per RFID überprüft wird.

Der Verband der EDV-Software- und -Beratungsunternehmen VDEB jubelt: "RFID hält derzeit massiv Einzug in die umsatzstärksten Branchen, vorrangig des Handels und der Logistik." Dass Politik und ein paar Datenschutzbeauftragte diesen Prozess stoppen, ist nicht anzunehmen. Die Verantwortung fällt - zumindest im Detail - dem einzelnen Integrator oder Programmierer zu, der die zugehörigen Backend-Systeme implementiert. Es ist anzunehmen, dass dabei auch Linux und Open-Source-Software zum Einsatz kommen werden.

Es ist angesichts der wirtschaftlichen Lage des IT-Sektors vermessen zu verlangen, dass verantwortungsbewusste Programmierer solche Jobs aus ethischen Gründen ablehnen müssten. Aber gerade Leute, die bei Software die Freiheit schätzen, sollten beim Thema RFID nicht nur das IT-Hirn, sondern auch die menschliche Vernunft aktivieren. Nicht alles, was machbar ist, ist richtig.