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Das Wikipedia-Projekt zwischen Quantität und QualitätWeltwissenTorsten Kleinz |
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Wir können die Unternehmen nicht davon abhalten, die Informationen zu beschränken, die sie verfügbar machen. Wir können aber eine Alternative bereitstellen: Wir müssen eine Bewegung starten, die eine universelle freie Enzyklopädie entwickelt - das formulierte Richard Stallman im Jahr 1999 in einem Aufsatz über eine freie Enzyklopädie[1].
Jimmy Wales und Larry Sanger aus Florida diskutierten das Konzept und starteten 2000 das Projekt Nupedia. Hier sollten Artikel von jedermann eingereicht werden können, die anschließend einen ausgefeilten Redaktionsprozess durchliefen. Doch das Projekt scheiterte, nur eine Handvoll Artikel fand den Weg in diese Enzyklopädie.
Die Wende kam, als sich Jimmy Wales mit dem Wiki-Prinzip von Ward Cunningham befasste. Der hatte ein schlankes, archaisches Redaktionssystem entwickelt, das es jedem Besucher einer Webseite ermöglichte, direkt den Text der Seite zu ändern und eigenständig neue Seiten anzulegen. Er nannte das System Wiki-Wiki, was auf Hawaiianisch "schnell" bedeutet. Anfang 2001 startete also ein neuer Anlauf für das freie Weltwissen: Die Wikipedia war geboren[2].
Sie hat das Prinzip der Freiheit auf mehreren Ebenen etabliert. Nicht nur die Inhalte sind frei zu verwerten - alle Artikel stehen unter der Freien Dokumentationslizenz GFDL - auch die Teilhabe an dem Projekt ist denkbar offen. Man muss sich nicht einmal anmelden, um direkt auf der Webseite die Artikel verändern zu können und zu den Diskussionen beizutragen.
Das Wiki wird nicht nur für die Artikel, sondern auch zur Projektorganisation genutzt. Alles, was die deutsche Wikipedia betrifft, findet man in dem Projektportal: Anleitungen zum Schreiben der Artikel, Initiativen zur Verbesserung der Qualität und aktuelle Abstimmungen. Sogar Pressemitteilungen werden in gemeinsamer Arbeit erstellt.
Doch als Diskussionsmedium hat ein Wiki gewisse Mängel. Die User schreiben ihre Beiträge einfach in eine Webseite - die Struktur ist zumeist Handarbeit. So bleibt es im Ermessen der User, ob sie ihre Standpunkte ordentlich gliedern oder wild durcheinander. Die Wikipedia-Entwickler haben einige Funktionen eingebaut, die das Diskutieren erleichtern sollen: Es ist möglich, mit einem Knopfdruck eigene Beiträge zu unterschreiben, man kann seine Beiträge einrücken und einfach eine Gliederung samt Inhaltsverzeichnis erstellen.
Doch bei längeren Diskussionen wird die Seite schnell unübersichtlich. Deshalb nutzt das Projekt auch noch andere Diskussionsmedien: verschiedene Chats im IRC-Netzwerk Freenode und mehrere Mailinglisten. Immer öfter kommen auch Wikipedianer direkt zusammen, sie veranstalten gemeinsam Workshops auf Kongressen, zum Beispiel beim Wizards of OS in Berlin. In vielen deutschen Städten bilden sich zurzeit sogar Wikipedia-Stammtische.
Wikipedia ist als offene Plattform darauf angewiesen, dass die überwiegende Mehrheit der Nutzer konstruktiv mitarbeitet. Sie nutzt statt des Redaktionsprozesses der Nupedia eine Peer Review. Diese sieht vor, dass gleichberechtigte Teilnehmer die Inhalte kontrollieren und verbessern. Nach Überzeugung der Wikipedianer steigt die Qualität an, je mehr Leute an einem Artikel mitarbeiten. Bei unterschiedlichen Auffassungen können die Kontrahenten theoretisch unbegrenzt immer wieder ihre eigene Version des Artikels einstellen. Da dies jedoch auf Dauer ermüdend ist, werden sich die Streithähne irgendwann auf einen Kompromiss einigen - so die Theorie. Doch diese Einigung ist nicht immer herzustellen.
Die offene Struktur der Wikipedia macht sie aber auch zum Ziel von Trollen und Vandalen, die absichtlich falsche Informationen in die Artikel einpflegen, endlose Diskussionen führen und überhaupt alles tun, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Auch für Reklame in eigener Sache ist die Wikipedia eine offenbar lohnende Plattform: Ein Link in Wikipedia jagt das Google-Ranking der Website oft beachtlich in die Höhe - und wer hätte nicht gerne einen Lexikon-Eintrag über sich? Überzeugungstäter sind ein weiteres Problem. Denn eins der höchsten Prinzipien der Wikipedia ist der "Neutral Point of View" - der neutrale Standpunkt der Artikel.
Wikimedia Foundation |
Seit einem Jahr wird Wikipedia von der Wikimedia Foundation[4] mit Sitz in Florida betrieben. Sie kümmert sich um den Betrieb und die Finanzierung des Projekts. Insgesamt 100000 Dollar Spenden konnte die Organisation bisher einwerben. Das Geld wurde meist direkt in neue Server investiert, die mit der Masse der Anfragen und Änderungen in der Regel voll ausgelastet sind. Das Enzyklopädieprojekt bekommt immer neue Projekte auf Wiki-Basis zur Seite gestellt. So entstehen unter dem Namen Wiktionary Wörterbücher in verschiedenen Sprachen, Wikibooks stellt freie Lehrbücher online und Wikiquote sammelt Zitate. |
Um die Wikipedia in die richtigen Bahnen zu lenken, gibt es Administratoren. Sie können umstrittene Artikel einige Zeit sperren und die Streithähne zur Diskussion bewegen. In der deutschen Wikipedia gibt es mittlerweile 100 solche Moderatoren. Doch bei täglich über 400 neuen Artikeln und 300000 Bearbeitungen im Monat fällt es auch ihnen schwer, den Überblick zu behalten. Deshalb müssen unbedingt auch die normalen Nutzer ihren Teil dazu beitragen, die Wikipedia benutzbar zu halten.
Ein effektives Mittel zur Kontrolle ist die Versionshistorie. Mit wenigen Mausklicks kann jeder herausfinden, welcher Benutzer wann welche Änderungen vorgenommen hat. Zwei beliebige Versionen lassen sich direkt vergleichen, die Entwicklung eines Artikels ist so zu verfolgen. Auf diese Weise kann jeder Nutzer zum Moderator werden.
Die Entscheidungsstruktur innerhalb der Wikipedia ist nicht einfach nachzuvollziehen. Es gibt zwar Abstimmungen, aber diese Meinungsbilder sind in der Regel nicht verpflichtend. Administratoren werden von engagierten Nutzern gewählt - und auch wieder abgewählt. Um Artikel zu löschen, werden auf einer speziellen Seite Pro- und Kontra-Stimmen gesammelt, die Entscheidung fällt nach einer Diskussion.
Für Neulinge ist es nicht einfach, die Vielzahl der Regeln und Verfahren zu durchschauen, die sich in den letzten vier Jahren herausgebildet haben. Um gleich am Anfang ein positives Arbeitsklima zu schaffen, haben es sich viele etablierte Mitglieder zur Gewohnheit gemacht, Neulingen Willkommensnachrichten zukommen zu lassen.
Diese Nachrichten sind persönlich formuliert und nehmen direkt Bezug auf die ersten Änderungen, die der User vorgenommen hat. Die erfahrenen Benutzer geben Ratschläge, was die Neulinge besser machen können und wo ihre Mitarbeit am meisten gebraucht wird. Der häufigste Ratschlag ist: Sei mutig. Denn nur wenn die Leser mitarbeiten und nicht nur konsumieren, kann das Projekt auf Dauer erfolgreich sein.
In der Quantität ist Wikipedia unerreicht: In nur sieben Monaten steigerte sich die Artikelanzahl von einer halben auf eine ganze Million. Die größten Anstrengungen gelten zurzeit daher der nachhaltigen Steigerung der Qualität. So führte die deutsche Wikipedia eine Rubrik "Exzellente Artikel" ein.
Doch dieses Vorhaben geht nur schleppend voran - bisher haben es nur 200 von über 140000 deutschen Artikeln geschafft, den Auswahlprozess zu bestehen. Ein anderer Ansatzpunkt sind Aktionen wie etwa Schreibwettbewerbe, die zuerst bei der niederländischen aufkamen und jetzt auch bei der deutschen Wikipedia stattfinden.
Mediawiki |
Setzte die freie Enzyklopädie am Anfang noch auf vorgefertigten Wikis, steht seit nunmehr zwei Jahren eine eigene Software bereit: Mediawiki [5], [6]. Diese Wiki-Engine wird unter der GPL speziell für die Bedürfnisse der Wikipedia entwickelt, hat sich inzwischen aber auch zur beliebten Plattform für andere Wiki-Projekte entwickelt. Die Software ist in PHP geschrieben und nutzt die Datenbank MySQL. |
Bisher konnte die Wikipedia alle Erwartungen übertreffen. Doch wohin die Reise geht, ist noch offen. Im Herbst erscheint die erste CD-Fassung der Wikipedia in Deutschland, eine englische und französische Fassung wird bis Ende des Jahres folgen. In den USA ist eine gedruckte Fassung in Arbeit. Doch wo Wikipedia in einem Jahr stehen wird, ist ungewiss. Die ständig wachsende Gemeinschaft erfordert immer neue Anpassungen. Jimmy Wales formuliert es so: "Wir wollen unsere Qualitätsstandards beibehalten und verbessern und gleichzeitig wollen wir eine offene und freundliche Gemeinschaft sein. Das ist unsere Herausforderung." (uwo)
Infos |
[1] Richard Stallmans Forderung nach einer freien Enzyklopädie: [http://www.gnu.org/encyclopedia/free-encyclopedia.html] [2] Wikipedia auf Englisch: [http://www.wikipedia.org] [3] Der deutsche Wikipedia-Ableger: [http://de.wikipedia.org] [4] Wikimedia-Foundation: [http://wikimedia.org] [5] Die Mediawiki-Software: [http://wikipedia.sourceforge.net] [6] Erik Möller, "Schreibkollektiv - Mediawiki installieren": Linux-Magazin 04/04, S. 64 |
Der Autor |
Torsten Kleinz ist IT-Fachjournalist aus Köln. Das Projekt Wikipedia verfolgt er schon seit mehr als einem Jahr. |