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Konservativ, progressiv

Jan Kleinert, Chefredakteur

Ändere nie ein laufendes System! Jeder PC- und Server-Betreuer kennt diese Regel - und verstößt doch immer wieder dagegen. Für Programmierer an etwas größeren Projekten gilt das Gleiche. Das Never-change-Credo speist seine universelle Gültigkeit aus der Praxis: Wer "nur mal schnell eine kleine Sache" ändert, übersieht mit einiger Wahrscheinlichkeit einen damit verbundenen Seiteneffekt. Knallt es gleich, ist der Schaden gering - eine durchgearbeitete Nacht später ist's vergessen. Tückischer sind die Effekte, die erst Monate später auftreten, denn selbst der Verursacher bringt sie im Leben nicht mit der "kleinen Sache" von damals in Verbindung.

Hardware-Kistchen gewordene Resultate des "Du brauchst gar nicht versuchen zu fummeln, Liebling"-Grundsatzes sind Appliances - bei ihnen geht Betriebssicherheit vor Universalität. Dass Betriebssicherheit und feingliedrige Konfigurationsmöglichkeiten einander nicht ausschließen, beweist das Debian-Projekt. Die gern gescholtene konservative Versionspolitik hat ihre Anhängerschaft über die Jahre ordentlich wachsen lassen, gerade im Serverbereich, wo Uptimes mehr zählen als neue Features.

Zurzeit beschäftigt sich die Debian-Community nicht mit ihren Erfolgen, sondern mit einem hausgemachten Lizenzproblem. Hier im Linux-Magazin thematisieren zwei Artikel das Problem auf eigene Weise: die "Projekteküche", der Autor arbeitet beim Debian-Desktop-Projekt mit, und die "Brave GNU World", Georg Greve schreibt aus Sicht der europäischen Free Software Foundation.

Zurück zum Lob alles Konservativen und zu Belehrungen der Art: Das haben wir schon immer so gemacht. Spätestens hier wird deutlich, dass es zwingend des veränderungswilligen Gegenparts bedarf. Ohne vorwärts drängende Charaktere und die Lust Neues auszuprobieren, säßen wir noch heute vor unseren DOS-Rechnern und würden uns gegenseitig zeigen, wer seinem PC das längste Speicherschnipselchen zwischen 640 und 768 KByte per Himem und EMM386 rausgekitzelt hat. Letztlich ist diesem Progressivitäts- Vorbehalt zu verdanken, dass es beispielsweise einen Kernel 2.6 gibt. Die bei jeder Major-Release immer gleichen Stimmen "Den kann man unmöglich vor Punkt 15 einsetzen!" sind der Community um Linus Torvalds und Andrew Morton offenbar piepegal - gut so!

Auch die Titelstory im Linux-Magazin gibt sich progressiv - ich finde zurecht. Es geht um Kernel 2.6 und die landläufige Erkenntnis, dass er mit Intels C-Compiler nicht übersetzbar ist. Unser Autor gab sich damit nicht zufrieden und fand einen Weg. Mit der Grundeinstellung "Ändere nie ein laufendes System!" geht so was natürlich nicht. Doch alles fließt. Eines schönen Tages übernehmen die Konservativen die heute progressiven Dinge. Irgendwer verbaut dann 2.6er Kernels fummelresistent in einer Appliance.